„Ich bin es leid, mich ständig rechtfertigen zu müssen“

Trainermangel und Nachfolgesorgen treiben TV-Vorsitzenden Norbert Stranzinger um – Und dann ist da auch noch Corona

Burghausen. Seit 14 Jahren führt Norbert Stranzinger mit dem TV 1868 Burghausens zweitgrößten Sportverein. Seine Nachfolge hätte der 61-Jährige liebend gern bereits in die Wege geleitet, doch die Kandidatensuche gestaltet sich mehr als schwierig. Nicht die einzige Sorge, die den Vereinsmensch umtreibt.

Beschwerden über die Corona-Vorgaben, dazu der Ärger wegen fehlenden ehrenamtlichen Engagements und Nachwuchsprobleme – der Job des TV-Vereinsvorsitzenden klingt derzeit nicht nach sonderlich viel Spaß.
Stranzinger: Nein, ganz und gar nicht. Das ist er aktuell auch nicht.

 

Wo liegen die Hauptprobleme?
Stranzinger: Das ehrenamtliche Engagement lässt generell bei fast allen Vereinen zu Wünschen übrig. Du findest einfach immer weniger Leute, die bereit sind, sich einzubringen. Ich habe im letzten halben Jahr versucht, junge Abteilungsleiter einzubinden, um eine Verjüngungskur einzuleiten. Da zeichnet sich zwar etwas ab, meine Hoffnung ist, dass es tatsächlich aus dem Altersbereich 25 bis 40 Nachwuchs für die Vorstandschaft gibt. Hauptproblem bleibt aber der Vorsitz, also mein Posten. Ich bin jetzt über 40 Jahre im Ehrenamt, seit 2006 als 1. Vorsitzender. Da stellt sich die Frage der Nachfolge. Doch leider finde ich hier nicht einmal annähernd jemanden, der es machen will. Klar ist, Du bist als Vorsitzender verantwortlich für den Verein, Du unterschreibst beim Notar mit deinem Namen. Davor scheuen viele zurück, gerade in Krisenzeiten. Doch es kann nicht sein, dass ein Vereinsvorsitzender weitermachen muss, bis er stirbt.

Eine mögliche Idee: „Fusionen zu schaffen“ Angesichts dieser Situation dürfte klar sein, dass es bei den nächsten Wahlen im kommenden Jahr keinen Führungswechsel geben wird.
Stranzinger: Mein Wunschtraum wäre gewesen, einen potenziellen Kandidaten zu finden, ihn anzulernen, vielleicht sogar eine Wahl für nur ein oder zwei statt der üblichen drei Jahre durchzuführen. Aber ich finde niemanden, und, was besonders schlimm ist, ich finde auch keinen 2. Vorsitzenden, der bereit ist, das Amt nach mir zu übernehmen.

Wie soll es dann weitergehen?
Stranzinger: Man muss über alles nachdenken, auch darüber, Fusionen zu schaffen, Gemeinsamkeiten.

Mit wem? Wacker? Raitenhaslach?
Stranzinger: Es geht nur um grundsätzliche Gedanken, doch man muss sie alle durchdenken. Wichtig ist eine offene Diskussion.

Andernorts wird über hauptamtliche Vorsitzende diskutiert.
Stranzinger: Das ist für mich das Schlechteste, was passieren kann. Ein freiwilliger Vorstand und ein hauptamtlicher Geschäftsführer, so wie es der SV Wacker macht, ist grundsätzlich vorstellbar. Aber kein Berufsvorstand. Ich halte auch nichts von Dreier- oder Viererspitzen. Das hilft zwar im Moment, doch nicht auf Dauer, denn am Ende muss die Entscheidung von einem getroffen und verantwortet werden.

Wenn sich bei 2300 Mitgliedern niemand findet, der die Führung übernehmen will, klingt das sehr nach einem Armutszeugnis.
Stranzinger: Ja, das ist allerdings ein Armutszeugnis. Das Machen-wollen wäre ja schon die Königsdisziplin, es sieht sich ja noch nicht mal jemand in der Verantwortung, darüber nachzudenken, dass er es machen könnte. Ich habe wirklich mit vielen gesprochen, aber nur Absagen erhalten.

Corona dürfte die Lage nicht einfacher machen. Der Sportbetrieb ist nur eingeschränkt möglich, das Murren ist groß.
Stranzinger: Zu dem Thema hört man von vielen Vereinsvorständen dasselbe. Es geht doch hier nicht um eine Stranzinger-Corona, das Virus betrifft die ganze Welt. Doch über alle Altersgruppen hinweg kommen dieselben Kommentare. Da heißt es dann, es kann doch nicht sein, dass ihr alles zusperrt, das ist Schikane. Da muss ich sagen: Ich trage die Verantwortung, wenn im Verein irgendwas schief läuft, bin ich der Erste, der angezeigt wird. Da geht es um Aerosole, ums Durchlüften von Hallen. Wenn mir erzählt wird, was bei anderen Sportvereinen angeblich alles möglich ist, dann muss ich sagen, es hat nun mal jeder Verein eine andere Hallenkonzeption, eine andere Belegung, eine andere Duschkonfiguration, eine andere Umkleidegeometrie. Beim SV Wacker etwa ist der Kraftraum größer und hat eine Lüftungsanlage. Das ist nicht vergleichbar. Wir sind hier auf engem Raum beisammen. Ich kann doch nicht sehenden Auges unseren Mitgliedern Schaden zufügen. Deswegen bitte ich da um eine gerechtere Betrachtung – und auch um mehr Vernunft.

Wie zahlreich sind die Beschwerden?
Stranzinger: Da sind wir schon bei mehreren Hundert.

Wie eng ist bei der Thematik der Austausch unter den Burghauser Sportvereinen?
Stranzinger: Es gibt intensive Gespräche, sowohl mit Heiko Hiller vom SV Wacker als auch Christl Winterstetter vom SV DJK Raitenhaslach. Unsere Sportvereine sind hier unisono gleich – aber, und das ist das Entscheidende: Die Sportstätten haben andere Ausrichtungen. Wenn ich in der Halle eine super Belüftungsanlage habe, kann ich den Abstand geringer halten. Bei uns im TV setze ich, sobald ich die als Notausgang gedachten Türen zum Lüften öffne, eine Notfalleinrichtung außer Kraft. Da würde im Ernstfall die Feuerwehr nicht mehr automatisch informiert. Das geht nicht. Aber das sehen viele nicht ein und reagieren beleidigend mir gegenüber. Ich bin es leid, dass ich mich ständig rechtfertigen muss. Ich mache das doch nicht gern, ich mache es, weil mir nichts anderes übrig bleibt.

Die Nachfolge in der Vorstandschaft ist das eine, Probleme bereitet aber auch die Suche nach Ehrenamtlichen im Trainer- und Übungsleiterbereich. Das Eltern-Kind-Turnen musste mittlerweile aufgelöst werden.
Stranzinger: Nicht nur dieses, auch andere Gruppen wie Capoeira, das Erlebnisturnen und das Jedermannturnen haben wir verloren. Du findest einfach keine Trainer mehr. Jugendleiterin Petra Maier und ich haben alles versucht. Doch vergebens. Aussagen wie ‚ich würde ja eventuell mithelfen‘ bringen mir nichts. Ich brauche jemanden, der es fix macht, nicht nur mal hier, mal dort.

Doch wie darauf reagieren? Mit Geld?
Stranzinger: Mit mir als Vorsitzenden wird es keinen bezahlten Sport geben. Zumal die Suche nicht einfacher würde, wenn wir statt der bislang sieben Euro künftig zehn Euro zahlen. Da müssten es schon 40 Euro pro Stunde sein und das will ich nicht.

Ist das Trainerproblem ein TV-Phänomen oder melden die anderen Sportvereine ähnliche Entwicklungen?
Stranzinger: Ich höre es genauso auch von anderen, sei es aus der Stadt oder dem Umland. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Leider tritt immer mehr die Frage in den Vordergrund: Was bringt mir das, was bekomme ich dafür, wo habe ich einen Vorteil daraus. Das Hauptproblem ist die zunehmende Ich-Gesellschaft.

Oft werden als Erklärungen berufliche Gründe genannt, der Umstand, dass in der Arbeitswelt mehr Flexibilität, auch bei den Arbeitszeiten gefragt ist. Sind das Ausreden oder bleibt heutzutage tatsächlich weniger Zeit für die Vereinswelt?
Stranzinger: Der wesentliche Unterschied zu früher ist, dass heute deutlich mehr Frauen berufstätig sind. Das betrifft vor allem den Kinder- und Seniorensport, der spätnachmittags unterwegs ist. Bei den Vätern sehe ich eher, dass der Wunsch zunimmt, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen. Wer allerdings rein mit dem beruflichen Argument kommt, dem muss ich schon entgegen halten, dass auch die heutige Vorstandschaft zu einem Gutteil berufstätig ist. Ich war schon Vorstand, als ich für Wacker vier Jahre lang in Nünchritz war. Da habe ich abends für den Verein gearbeitet und das Wochenende über war ich in der Halle. Das ging, weil meine Frau absolut hinter mir stand und mir den Rücken freigehalten hat.

Bei den Mitgliederzahlen muss der Turnverein heuer wohl ein größeres Minus hinnehmen. Eine Folge von Corona?
Stranzinger: Nur bedingt. Das hängt vor allem mit den wegfallenden Gruppen aufgrund des Trainermangels zusammen. Von den 50 Kindern des Eltern-Kind-Turnens hat rund die Hälfte den Verein verlassen. Alle weggebrochenen Gruppen zusammengerechnet, geht es um 150 bis 200 Betroffene. Grundsätzlich hält sich die Zahl der jährlichen Zu- und Abgänge seit Jahren in etwa die Waage. Was sich ändert, ist die Dauer der Zugehörigkeit. Es ist normal geworden, ein paar Jahre dabei zu bleiben, dann, weil man kurzzeitig nicht in der Stadt ist oder das Angebot gerade nicht zusagt, auszutreten und nach einem Jahr wieder einzutreten. Ich bin überzeugt, dass es Auszeichnungen, etwa für 30, 40 oder 50 Jahre Vereinszugehörigkeit, künftig nur noch ganz selten geben wird.

TV droht heuer größerer Mitgliederschwund. Der Stellenwert des Vereins selbst, und auch des Sports, ist dagegen gleichbleibend hoch.
Stranzinger: Absolut. Zumal es heutzutage viel weniger ‚wilde‘ Sport- und Spielplätze gibt. Die Eltern und Großeltern suchen geradezu nach Möglichkeiten, wie sie ihre Kinder bespaßen können. Die Nachfrage beim Turnverein ist deswegen weiterhin gut.

Es zwickt also nicht überall?
Stranzinger: Nein, gar nicht. Es läuft sogar sehr vieles wirklich sehr gut. Kickboxen, Ju-Jutsu, Karate, Judo, American Football, Cheerleading – alles wunderbar. Deswegen will ich mit Blick auf den Verein auch keinen falschen Gesamteindruck erwecken. Doch gibt es eben auch Probleme, etwa den Trainermangel. Und das blockiert mich. Ich bin eigentlich ein Mensch, der Innovationen mag, der fünf Jahre vorausschauen will. Doch das geht im Moment nicht, weil ich grossteils damit beschäftigt bin, den Ist-Zustand zu halten und Fehlstellungen zu korrigieren.